III: Unbegreifliche Aussagen

Akupunktur im Westen:
 Am Anfang war ein Scharlatan

Teil I.     Zusammenfassung
Teil II.   
Erst Cholera, dann “funktionelle Störungen”
Teil III. 
Unbegreifliche Aussagen
Teil IV.   
Der GAU des Hochstaplers
Teil V.    
Indizien und ein Urteil
Teil VI.   
Ist TCM Kultur oder Medizin?
Teil VII. 
Nachtrag: Was taugt die Akupunktur?
Teil VIII.
Literaturangaben und Anmerkungen
Teil IX.  
Fotos

Teil III: Unbegreifliche Aussagen

5. Unbegreifliche Aussagen I: Vom Küssen zur Medizin

Trotz seiner unglaublichen Produktivität ist es fraglich, was Soulié de Morant in China wirklich gesehen und gelernt hat. Denn immer wieder finden sich bei ihm Aussagen, die schlichtweg aus der Luft gegriffen sind.
So in dem Buch Cixi, Kaiserin der Boxer, das 1911, gleich nach seiner Rückkehr aus China, in Frankreich erscheint. Da schreibt er über
la satisfaction du baiser qui est mal connu en Extrème-Orient (17) ("die Befriedigung des Küssens, das im Fernen Osten nicht bekannt ist").
Er führt aus:
Un Pékinois qui rèsida longtemps à Paris, nos disait que, à son avis, cette ignorance du baiser expliquait tout ce que la civilisation chinoise peut avoir de sceptique, de blasé et de corrompuEn réalité toutes les races qui ne connaissent pa le baiser sont implacables et cruelles (18)  ("Ein Pekinger, der lange in Paris lebte, sagte uns, dass diese Unkenntnis des Küssens seiner Meinung nach erklärt, warum die chinesische Zivilisation skeptisch, blasiert und korrupt ist …Tatsächlich sind alle Rassen, die das Küssen nicht kennen, unerbittlich und grausam").
Nichts davon stimmt – ganz abgesehen von der Abneigung, die Soulié zum Zeitpunkt seiner Rückkehr offenbar gegenüber China und den Chinesen empfand. Natürlich kannten und kennen die Chinesen das Küssen nicht weniger als die Europäer. Und als Soulié de Morant später anfängt, chinesische Novellen und Romane zu übersetzen, wird darin auch fleißig geküsst, z.B. in der Sammlung Les Contes galants de la Chine, die 1925 als Der chinesische Dekameron auf deutsch erscheint. In der Geschichte "Der Hochzeitswirrwarr" heißt es:
 Aber schon nahm Yu-Lang sie in seine Arme, herzte sie voll Innigkeit, drückte seinen Mund auf den ihrigen ... (19).
Oder in der Geschichte "Stärker als die Liebe":
Nacht wurde es im Zimmer, in dem der Wohllaut der Seufzer und Küsse erklang. (20)
Auch in seinen eigenen Romanen, die in China spielen, wird je nach Situation nicht nur umarmt, sondern auch geküsst. Das Reden von der angeblichen Unkenntnis des Küssens der Chinesen ist schlicht lächerlich.
Und dennoch eine Aussage, die gerade wegen ihrer Absurdität die Frage aufwirft: Was hat Soulié de Morant von der chinesischen Gesellschaft wirklich mitbekommen? Wie oberflächlich muss sein Kontakt mit den Landeskindern gewesen sein, wenn er in so einem schlichten Aspekt nicht nur ohne Erfahrungen blieb, sondern nicht einmal Gelegenheit fand, Chinesen danach zu fragen? So dass erst ein Bücherstudium in Frankreich seine Meinung korrigierte, die Chinesen würden das Küssen nicht kennen?
Der Verdacht liegt nahe, dass seine reale Kenntnis Chinas gering war. Dass er dort nicht, wie er behauptet, ständig mit Chinesen zusammen war. Sondern dass auch er, wie die meisten Ausländer im damaligen China, die meiste Zeit unter Ausländern, in westlichen Clubs, in westlichen Bars verbracht hat.

In dem Buch Cixi, Kaiserin der Boxer von 1911 findet sich noch eine weitere, verhängnisvoll falsche Einschätzung. Diesmal ist es ein Irrtum, den man Soulié de Morant nicht als Schuld ankreiden kann, der aber dennoch die Tragik widerspiegelt, die das Leben dieses Mannes überschattet. Da fasst er nämlich sein Urteil über Cixi und die Zukunft Chinas in den Sätzen zusammen:
Son œvre politique fut grandiose ... Qand elle mourut, l’Empire reconstitué était sorti sain et sauf de la plus grande crise qu’il eût jamais traversée (21) ("Ihr politisches Werk war grandios ... als sie starb, war das wiederhergestellte Reich unversehrt durch die größte Krise gekommen, die es jemals durchgemacht hatte").
Und kaum ist das Buch gedruckt, kracht das unversehrt wiederhergestellte Reich zusammen. Das Kaisertum ist Geschichte, China versinkt in Revolution und Bürgerkrieg, und das Buch des 32-jährigen Soulié de Morant ist Makulatur, noch bevor es in den Buchhandlungen steht. 
Was nun seine Darstellung der chinesischen Medizin angeht, so beginnt auch diese mit einer Behauptung, wie sie falscher nicht sein könnte.
Da heißt es nämlich im Aufsatz vom April 1932 – dem ersten, den er nicht zusammen mit Paul Ferreyrolles, sondern in eigener Regie schreibt – gleich im ersten Satz über die Akupunktur:
La méthode, dite en chinois "des Aiguilles et des Moxas", Tchenn Tsiou fa, est la branche la plus importante de la médecine chinoise (22). ("Das Verfahren, das auf chinesisch "Nadeln und Moxa" heißt, Zhenjiufa, ist der wichtigste Zweig der chinesischen Medizin").
Unfassbar! Wer je in China war oder sich mit TCM beschäftigt hat, weiß, dass dort seit jeher die Heilmittelanwendung im Mittelpunkt steht: größtenteils Heilkräuter, aber auch tierische und mineralische Substanzen. Wie gering die reale Bedeutung der Akupunktur im China der Gegenwart ist (zumindest in Teilen davon), zeigte eine Umfrage, die Paul Ulrich Unschuld 1969/70 auf Taiwan durchführte: sie ergab, dass sich 78% der befragten Studenten und 100% der befragten Bewohner eines Dorfes an keine Akupunktur erinnerten, die jemals in ihrer Familie durchgeführt worden wäre (23).
Akupunktur das wichtigste Verfahren der chinesischen Medizin? Das kann nur ein Ignorant geschrieben haben – oder aber ein Betrüger, dem jedes Mittel recht war, für sich und seine Lehre Werbung zu machen.
Wie also soll man diesen Satz interpretieren? Als Zeichen für Soulié de Morants Neigung, Dinge zu verdrehen oder zu verfälschen? Oder aber als Zeichen außerordentlicher Ignoranz?
Wahrscheinlich beides.
Ohne Frage wusste Soulié de Morant, dass in Wahrheit nicht die Akupunktur, sondern die Heilmittelanwendung das wichtigste Verfahren der chinesischen Medizin war. Das zeigt z.B. seine 1929 erschienene Histoire de la Chine. Hier nämlich erwähnt er den mythischen Kaiser Shennong, und zwar mit dem Hinweis:
Il "goûta des centaines de plantes", c’est-à-dire inventa la médecine (24). (Er "kostete hunderte von Pflanzen", d.h. er erfand die Medizin).
Es zeigt sich auch in allen Geschichten und Romanen, die er aus dem Chinesischen übersetzte, aber ebenso in seinen eigenen Romanen. Hier treten gelegentlich auch Krankheiten auf, bei denen ein Arzt gerufen wird. Und wie oben angemerkt: niemals greift ein Arzt zu den Nadeln. Immer sind es Pillen oder sonstige Heilmittel, die verabreicht werden. Akupunktur wird nie erwogen; nicht einmal ihre bloße Existenz wird jemals erwähnt.
Folglich war seine Behauptung, Akupunktur sei das wichtigste Verfahren der chinesischen Medizin, eine Lüge. Ihr Zweck war, der Akupunktur ein höheres Gewicht beizumessen, als ihr tatsächlich zukam. Und es funktionierte. Niemand lachte ihn aus, niemand schöpfte Verdacht. Dabei hätten die Franzosen nur einen der vielen Chinesen fragen müssen, die auch damals schon in Paris lebten. Die Deutschen hätten Franz Hübotter fragen können: bis heute der einzige Deutsche, der sowohl Mediziner als auch Sinologe war, als auch lange Zeit in China gelebt und praktiziert hatte. Auch ein Blick in dessen Werk Die chinesische Medizin von 1929 (25) hätte gereicht. Offenbar waren nicht nur die deutschen TCM-Freunde, sondern auch die Franzosen derart leichtgläubig, wie man sich das als wissenschaftlich denkender Mensch kaum vorstellen kann.

6. Soulié de Morant und Porkert: die schärfsten Kritiker der TCM
Unbegreiflich auch, warum den Schülern des Soulié de Morant eines nie auffiel: dass seine Darstellung der chinesischen Medizin in Wahrheit die schärfste Kritik an dieser war, die man sich denken kann. Das nämlich folgt, wenn man es ernst nimmt, aus der Verbindung seiner Sätze:
A) Das Verfahren, das auf chinesisch "Nadeln und Moxa" heißt, Zhenjiufa, ist der wichtigste Zweig der chinesischen Medizin
B) Das wahre Gebiet der Akupunktur sind die funktionellen Störungen, abzugrenzen von den Läsionen, die durch Chirurgie und andere Methoden zu behandeln sind.
Eine Sicht, wie sie später Manfred Porkert für die gesamte TCM formuliert:
Deshalb eignet sich die chinesische Medizin auch in erster Linie zur Heilung von Funktionsstörungen (26).
Die Frage ist allerdings: Wann wurde der Arzt im chinesischen Altertum denn gerufen?
Doch in der Regel gerade nicht bei "Funktionsstörungen" oder "vegetativer Dystonie". Sondern bei genau denselben Zuständen, für die man auch heute den Notarzt ruft: Herzinfarkt, Schlaganfall, Bewußtlosigkeit. Hohes Fieber, Schüttelfrost, Lähmungen. Schwerer Durchfall, fortgesetztes Erbrechen. Bluthusten, Vergiftungen, schwere Verletzungen, unstillbare Blutungen. Oder, wenn keine akuten Notfälle, so doch chronisch verschlechternde Zustände: Krebs, Geschwülste, Geschwüre. Chronisch eiternde Wunden. Auszehrung, Schwäche, chronische Atemnot. Arthritis, Arthrosen, Gicht, Gelenkverkrümmungen. Das ganze Spektrum zunehmenden Organversagens, wie es sich nun einmal zwischen Leben und Tod abspielt, im chinesischen Altertum nicht anders als im heutigen Deutschland. Alles keine "funktionellen Störungen".
Mit anderen Worten: die Akupunktur, laut Soulié de Morant einerseits zuständig für "funktionelle Störungen", andererseits "das wichtigste Verfahren der chinesischen Medizin", wäre demnach im gesamten chinesischen Altertum für die entscheidenden Indikationen untauglich gewesen! Und dasselbe hätte laut Porkert für die gesamte chinesische Medizin gegolten.
Schärfer kann man die TCM gar nicht kritisieren, als es diese beiden seltsamen Missionare tun. Nur dass die gläubigen westlichen TCM-Freunde die wahre Bedeutung dieser Aussagen gar nicht begriffen.
So muss denn ich – die Empirie der Chinesen hoch achtend, aber ihre Theorie überwiegend für obsolet haltend – die TCM ausgerechnet vor ihren größten Befürwortern in Schutz nehmen.
Zum Beispiel durch die Feststellung, dass Soulié de Morants Darstellung der Akupunktur als wichtigstem Verfahren der TCM nur eine Zwecklüge war. 

Bei anderen Sachverhalten ist allerdings anzunehmen, dass Soulié de Morant sie wirklich nicht wusste.
Mit Sicherheit wusste er nicht, was einem selbst heute die Lehrer der chinesischen TCM-Universitäten nicht sagen können oder wollen: Was war denn in Chinas Medizingeschichte die reale Bedeutung der Akupunktur? Gab es jemals eine Phase oder eine Region, wo die Akupunktur wichtiger gewesen wäre als die Heilmittelanwendung? Wie hoch, verglichen mit dieser, war in verschiedenen Epochen und Regionen der geschätzte Anteil der Akupunktur? Gab es jemals in größerem Umfang reine Akupunkturbehandlungen, oder wurden sie fast immer mit der Gabe von Heilmitteln kombiniert?
Das sind bis heute offene Fragen, vor deren Beantwortung sich die chinesischen Lehrer nach Kräften drücken – wie sie denn überhaupt alle Fragen nach Zahlen und klinischen Realitäten verabscheuen wie der Teufel das Weihwasser. Dass auch Soulié de Morant das nicht wusste, kann man ihm nicht vorwerfen – wohl aber, dass er sein Unwissen mit der Behauptung überspielte, die Akupunktur sei nicht nur wichtig, sondern gar das wichtigste Verfahren.
Es fällt auch auf, dass er von dem, was sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts in China auf medizinischem Gebiet tat, offenbar weder etwas wusste, noch sich dafür interessierte. Er wusste nichts von den Auseinandersetzungen, die spätestens seit der Zeit der Opiumkriege und dem Eindringen westlicher Anatomie, Physiologie und Chirurgie Chinas alte Medizin von innen her zerrissen. Er wusste nichts davon (oder er verschwieg es absichtlich), dass die jungen chinesischen Intellektuellen die alte Medizin als Inbegriff der Rückständigkeit attackierten. Er wusste nicht, dass schon 1914 Wang Daxie, der Gesundheitsminister der jungen Republik, die Eintragung der TCM-Ärzte als medizinische Vereinigung abgelehnt hatte mit den Worten:
I have decided to prohibit the native practice and do away with the crude herbs (27).
Er wusste auch nicht, dass am 25. Februar 1928 der nationale Gesundheitsrat eine Resolution for Abolishing the native Practice erlassen hatte (28), also ein Verbot der traditionellen Medizin (das allerdings, schon aus Mangel an modernen Ärzten in den ländlichen Gebieten, nie durchgesetzt werden konnte).
Noch weniger wusste er, dass bereits 1822 – mehr als 100 Jahre früher – an der Kaiserlichen Medizinakademie die Aku-Moxa-Abteilung aufgelöst worden war, da sie "für die Anwendung am Kaiser nicht angemessen sei".
Zwar behaupten die heutigen chinesischen Lehrbücher, die Akupunktur habe im Volk weiterhin eine große Rolle gespielt. Genau das ist zweifelhaft. Vieles spricht dafür, dass sie kaum noch angewandt, ja geradezu eine Rarität wurde, wie dies auch die oben zitierten Forschungen von Unschuld zeigen. Das gibt Soulié de Morant später sogar indirekt zu, als er in seinem Hauptwerk L’Acuponcture Chinoise 1939 in einem Nebensatz mitteilt (zitiert nach der 1994 in den USA erschienenen Übersetzung):
In Canton ... there were hardly a dozen acupuncturists thirty years ago (29).
Und in Peking, Shanghai und Yunnan-fou, wo er selber angeblich praktizierte? Wie viele Akupunkteure gab es da in den Jahren, die er dort verbrachte?
Auch dazu macht er – wie fast immer – keine Angaben.
William R. Morse, der als Anatom in Chengdu (Sichuan) lehrte und 1934 das Buch Chinese Medicine veröffentlichte, erlebte die Akupunktur in einer Kleinstadt als eine Art Jahrmarktsensation:
I was attracted be a large crowd in the market place surrounding a Chinese "surgeon" who was executing the art of surgery by means of needles in the operation of acupuncture ... Suggestively placed on the charts were coins, moxa and an assortment of twelve needles, 3 to 24 cm in length. I saw needles inserted deeply into the suprasternal notch and in the grooves above the clavicle, which vibrated from their proximity to the great arteries of the neck. Needles inserted 5 to 15 cm into the liver and epigastrium. Needles pierced the thigh, forearm, foot, hand, leg, transfixed the knee, elbow, wrist and ankle joints. Another needle passed through the lacrimal sac and proceeded inwards along the inner wall of the orbit, apparently deeply enough to enter the brain. Some of the needles were inserted before I arrived, some I saw inserted. One insertion was rather striking and gruesome. The needle entered the nose until it reached, I would think from its direction, the ethmoid plate and then was struck a considerable blow, I presume piercing the ethmoid plate into the brain! ... The operator's procedures for sterilization varied. No application was made to the skin. He "cleaned" the needle with his thumb nail, rubbed it through his hair, or rubbed it off on his gown or the sole of his shoe, or all of these, then lubricated the needle with spittle and drove it home. After a suitable time he removed the needle, applied moxa, set it on fire and crushed the ashes into the formed blister with his fingernail (30).
Diese Beschreibung ist offenbar so zutreffend für die Akupunkteure dieser Zeit, dass selbst die Chinesen Wong & Wu sie in ihrer History of Chinese Medicine von 1936 abdrucken (31). Und dass Soulié in all seinen Werken niemals die reale Akupunktur eines Chinesen beschreibt – auch nicht die seiner Lehrer, angeblich an drei verschiedenen Orten – ist eines von vielen Indizien dafür, dass er eine solche vermutlich nie gesehen hat. 

7. Unbegreifliche Aussagen II: Chinesische Homöopathie
Unkenntnis oder Lüge? Das ist auch die Frage bei einer weiteren Aussage, die für die Anfänge der Akupunktur des Soulié de Morant von größter Wichtigkeit war. Sie findet sich 1929 in seinem ersten Aufsatz, den er zusammen mit Paul Ferreyrolles verfasst hatte:
Les Chinois ... furent les premiers homœpathes (32). ("Die Chinesen ... waren die ersten Homöopathen").
 Wieder haarsträubend unrichtig. Genau das Gegenteil ist der Fall: die TCM war und ist – wie wohl alle traditionellen Medizinformen – explizit allopathisch: Fülle ableiten, Mangel auffüllen, Heißes kühlen, Kaltes erwärmen, Stockendes zum Fließen bringen.
Aber die Verbindung zwischen Homöopathie und Akupunktur ist in diesem ersten Aufsatz nicht nur wichtig, sondern geradezu seine Essenz. Sie hängt unmittelbar mit der oben erwähnten, angeblich chinesischen Entdeckung zusammen, dass funktionelle Beschwerden der inneren Organe immer mit einer schmerzhaften Empfindung an gewissen Punkten einhergingen. Was hatte es damit auf sich?
In Wahrheit war das eine Theorie, die auf den deutschen Arzt August Weihe (1840-1896) zurückging. Kernpunkt von dessen Thesen war erstens, dass bei inneren Erkrankungen bestimmte Punkte – eben die Weihe-Punkte – schmerzhaft würden. Zweitens, dass es zwischen diesen Punkten und bestimmten homöopathischen Substanzen eine direkte Entsprechung gebe.
Diese Entsprechungen waren für sich genommen schon äußerst zweifelhaft. Noch dubioser wurden sie dadurch, dass den meisten Punkten rechts eine andere Substanz entsprechen sollte als links. Die Frage, wie Weihe das herausgefunden hatte (oder wie man es überprüfen könnte), konnte er nie beantworten. Aber Soulié de Morant und sein Co-Autor Ferreyrolles setzen noch eins drauf. Eine Reihe der Weihe-Punkte waren auch Akupunkturpunkte, andere lagen in deren Nähe. Und so führt denn dieser erste Aufsatz des Soulié de Morant zur Akupunktur für einige Punkte solche Entsprechungen auf, z.B.:
Guanyuan (Ren-4) = Rhus Tox. Ermen (Sanjiao-21) = Asa Foetida. Tinggong (Dünndarm-19) = Calendula (33).
Akupunktur als Homöopathie – das stand am Anfang der neuzeitlichen westlichen Akupunkturtheorie. 

Und wie ging es weiter?
Nun zeigte sich ein Phänomen, das für Soulié de Morant ebenso bezeichnend ist wie für die westliche Akupunktur. Er selber wechselt ununterbrochen seine Darstellung und seine Bewertung, häufig auch seine Begriffe; man kann ihm förmlich dabei zusehen, wie er sich von Aufsatz zu Aufsatz tiefer ins Thema hineinarbeitet. Schon im zweiten Aufsatz wird die Homöopathie nur noch am Rande erwähnt; von einer Gleichsetzung mit der Akupunktur ist keine Rede mehr – erst recht nicht, dass die Chinesen die ersten Homöopathen gewesen wären. Und in Souliés erstem Akupunkturbuch, dem Précis de la vraie Acuponcture Chinoise von 1934, werden die Entsprechungen von Akupunkturpunkten und homöopathischen Substanzen gar nicht mehr erwähnt. In seinem Hauptwerk L'Acuponcture Chinoise von 1939-41 werden sie zwar erwähnt, spielen jedoch klinisch keine Rolle.
Aber auf jeder Stufe seiner Entwicklung (vielmehr, auf jeder Stufe seiner Irrtümer) hat Soulié de Morant Schüler, die das für bare Münze nehmen, was sie gerade bei ihm gehört haben. Überfließend vor Begeisterung, aber ohne jegliches kritische Nachdenken (erst recht ohne eingehende Literaturstudien), machen sie daraus ihre eigenen Bücher, unterrichten ihre eigenen Schüler. Sie nehmen sich nicht einmal die Zeit, die späteren Werke ihres Lehrers darauf zu prüfen, ob dieser nicht inzwischen ganz andere Positionen vertritt.
Das Phantom der Gleichsetzung von Akupunktur und Homöopathie ist eines der krassesten Beispiele dafür. Soulié de Morant hatte sich längst davon abgewandt, als Schmidt und de la Fuye 1952 Die Moderne Akupunktur veröffentlichten. Dennoch war das "Moderne" darin nichts anderes als eben diese Gleichsetzung. De la Fuye bezeichnet sie stolz als "Homöosiniatrie". Zu jedem Akupunkturpunkt nennt er ein homöopathisches Mittel, dessen Wirkung der Nadelung dieses Punktes entsprechen soll. Bei einigen Punkten gibt er tatsächlich rechts und links andere homöopathische Mittel als Entsprechungen an, etwa:
Magen25-Tianshu: Berberis (rechts), Sepia (links) (34).
Im Therapieteil wird das allerdings vergessen, und der Anwender muss selbst entscheiden, ob er den Punkt links als Sepia nadelt, oder rechts als Berberis.

Mit chinesischer Medizin hatte das nicht das geringste zu tun. Aber auch andere Dinge machen deutlich, wie wenig Schmidt und de la Fuye wirklich davon verstanden. Das zeigt schon ein Blick auf ihre Definition der medizinphilosophischen Grundlagen:
Die Chinesen teilten diese gegensätzlichen Wechselzustände in zwei Gruppen ein:
Die erste umfaßt ... Zusammenziehung, Schwerkraft, Zentripetalkraft. Alles, was diesem ersteren Wirkungsbereich angehört, nannten sie die positive oder "Yang-Kraft".
Der zweiten Kategorie gehören folgende relative Eigenschaften an ... Ausdehnung, Steigkraft und Zentrifugalkraft
. Alles, was in diese zweite Kategorie fällt, nannten sie die negative oder "Inn-Kraft"
(35).
Ganz falsch. Richtig ist es umgekehrt: Zusammenziehung und Schwerkraft sind Qualitäten des Yin, Ausdehnung und Aufsteigen des Yang ... abgesehen davon, dass Yin und Yang keine "Kräfte" sind, sondern Aspekte.
So absurd nun diese Homöosiniatrie des Roger de la Fuye auch sein mochte, so ist sie doch keineswegs ausgestorben. Überall dort, wo blauer Dunst regiert, wird mit der "Weisheit der alten Chinesen" neben Lebensenergie, Essen nach den fünf Elementen, Buch der Wandlungen und Astrologie immer mal wieder auch die Homöopathie in die große Suppe esoterischer Ganzheit eingerührt. Wohl bekomm’s. 

Und noch ein anderes Phantom der deutschen Nadeltherapie, das es in China nicht gibt, wird in dieser angeblich Modernen Akupunktur erstmals in Deutschland vorgestellt. Ich zitiere:
Die beiden Hauptpunkte
a) Der Tonisierungspunkt
(T) ist ein Hauptpunkt jedes Meridians, der mit einer Goldnadel punktiert wird und dessen Aufgabe es ist, ein Inn-Organ zu tonisieren.
b) Der Sedativpunkt (S) ist ebenfalls ein Hauptpunkt jedes Meridians, der mit einer Silbernadel punktiert wird und die Aufgabe hat, ein Yang-Organ zu dämpfen.
(36)
Auch das falsch, geradezu absurd, und zwar in doppelter Hinsicht.
Erstens im Blick auf die Anwendung: die meisten dieser angeblichen Hauptpunkte jedes Meridians sind in der chinesischen Akupunkturpraxis weitgehend belanglos (37). Wichtigste Ausnahme ist Dickdarm11-Quchi. Aber ausgerechnet dieser, in der Theorie "Tonisierungspunkt", wird vor allem bei "Fülle-Zuständen" wie Fieber oder Allergie verwendet – also "ableitend" bzw. "sedierend".
Noch unsinniger ist die Einschätzung dieser Punkte als "Hauptpunkte", wenn man ihre theoretische Herleitung betrachtet. Sie beruht auf der Zuordnung von Extremitätenpunkten zu den "fünf Phasen". Dieses Konzept jedoch steht erstens im Widerspruch zur angeblichen "Fließrichtung der Meridiane", die sonst überall eine Grundannahme der chinesischen Akupunkturtheorie ist. Zweitens fehlt der Zuordnung der peripheren Extremitätenpunkte – bei den Yin-Leitbahnen mit der Phase Holz beginnend, bei den Yang-Leitbahnen mit der Phase Metall – jegliche physiologische Plausibilität. Drittens ist die gesamte 5-Phasen-Theorie ein derart offenkundig spekulatives Element, dass jede Form ihrer Übertragung auf Körperfunktionen – erst recht in der Zuordnung innerer Organe und der daraus postulierten Richtung von fördernden und hemmenden Einflüssen – als absurd bezeichnet werden muss.
Auch diese "Tonisierungs- und Sedierungspunkte" sind eine der vielen Durchgangsstufen, die Soulié de Morant im Laufe seiner Entwicklung durchlaufen und hinter sich gelassen hat. Dennoch findet sich dieses Konzept – obwohl selbst die chinesischen Lehrwerke darauf verzichten – bis heute sogar im "Musterkursbuch Akupunktur" der Bundesärztekammer. 

Kein chinesisches Gesetz, kein 1901, keine Cholera 
Unkenntnis oder Lüge? Oder vielleicht, verursacht durch Unaufmerksamkeit, erst ein Zeichen von Unkenntnis, das später durch Lügen plausibel gemacht werden muss?
Es gibt eine weitere Aussage Soulié de Morants, die später eine Rolle spielen wird – 1953, als er wegen illegaler Medizinausübung vor Gericht steht. Dass so etwas einmal auf ihn zukommen könnte, muss er früh geahnt haben. Denn schon im zweiten allein verfassten Aufsatz vom Juni 1932 schreibt er:
C’est ainsi ... qu’aux yeux de la loi chinoise, je devins acuponcteur (38). ("So kam es, dass ich in den Augen des chinesischen Gesetzes Akupunkteur wurde").
Nanu, welches "Gesetz"? Sicher, in Frankreich gab es das. Da war und ist die Medizin strikt den Ärzten vorbehalten, noch schärfer als in Deutschland, wo es mit den Heilpraktikern immerhin einen zweiten Stand von Therapeuten gibt. Aber China?
Soulié selber schreibt in dem 1932 erschienenen Buch Soun Iat-Sènn über den Vater der chinesischen Revolution, der westlich ausgebildeter Arzt war:
Les lois en Chine ne réservaient pas un monopole aux diplômes médicaux (39). ("Die Gesetze in China räumen den medizinischen Diplomen kein Monopol ein").
Mit anderen Worten: Es gab in China kein Gesetz, in dessen Augen er Akupunkteur hätte sein können. Das wusste auch Soulié de Morant. Deshalb war die Behauptung, er sei nach chinesischem Gesetz Akupunkteur gewesen, eine durchsichtige Lüge.
Das zeigt im übrigen auch ein weiteres Indiz. Wie nämlich beginnt der erste Aufsatz vom Juni 1929, den er gemeinsam mit Paul Ferreyrolles verfasst?
Es geht, so steht hier, um
procédés que l’un de nous a vu appliqués en Chine (40). ("Verfahren, deren Anwendung einer von uns in China gesehen hat").
Gesehen – nicht praktiziert!
Falls dies ein Missverständnis des Paul Ferreyrolles gewesen wäre, dann hätte Soulié de Morant danach 2 Jahre Zeit gehabt, es zu korrigieren. Erst 2 Jahre später, im Juni 1931, erschien nämlich der nächste Aufsatz der beiden zum selben Thema. Und wieder heißt es hier:
Puis timidement, nous avons essayé sur des Européens ce que l’un de nous avait vu faire sur des Chinois (41). ("Immer noch furchtsam, probierten wir an Europäern das aus, was der eine von uns bei den Chinesen angewandt gesehen hatte").
Wieder nur "gesehen"! Keine Rede von "selber praktiziert", schon gar nicht davon, in den Augen des chinesischen Gesetzes Akupunkteur gewesen zu sein.
Ist es glaubwürdig, dass Soulié, der angeblich in China bereits zahlreiche Patienten genadelt hatte, seinem Freund und Partner Ferreyrolles kein Wort davon sagte? Meiner Meinung nach nicht. Wir probierten aus, heißt es in dem Aufsatz. Nicht aber "Soulié de Morant zeigte mir, wie es gemacht wird".
Offenbar war es für beide das erste Mal, dass sie sich an einer Akupunktur versuchten. Und Ferreyrolles hatte seinem Partner eines voraus, nämlich die Erfahrung zahlreicher Injektionen. Bei der ersten Nadelung, die Soulié de Morant unter seinen Augen vornahm, hätte er jedenfalls gemerkt, ob hier ein Anfänger oder ein alter Hase die Nadel führte. Zumindest in der ersten Zeit wäre es so gewesen. So ist nicht nur erklärlich, sondern zwingend, dass Soulié de Morant gegenüber Ferreyrolles kein Wort von angeblichen praktischen Erfahrungen in China erwähnte.
Es gab zu diesem Zeitpunkt auch gar keinen Grund dafür. Vermutlich dachte der Vielschreiber Soulié de Morant zu diesem Zeitpunkt nicht einmal im Traum daran, dass er bald darauf alle anderen Themen aufgeben und sich nur noch der Akupunktur widmen würde. Dass er der Lehrer zahlreicher Ärzte sein würde. Dass berühmte Künstler und Intellektuelle zu seinem Haus pilgern würden, um sich von ihm nadeln zu lassen.
Vermutlich brachte erst der zweite Artikel den Durchbruch. Inzwischen hatten er und Ferreyrolles zwei Jahre mit den Nadeln experimentiert. Anzunehmen ist, dass Soulié de Morant, der überaus schnell Lernende, sich ebenso schnell eine gewisse Nadeltechnik aneignete. Und nun gab es auf einmal vielfältiges Interesse für die Akupunktur. Immer mehr Ärzte wollten von ihm lernen. Am wichtigsten wurde das Ehepaar Thérèse und Marcel Martiny.
Es muss der Zeitpunkt gekommen sein, wo Soulié de Morant merkte: hier tat sich ein Markt auf, mit dem er nicht gerechnet hatte.
Allerdings gab es ein Problem: wenn er als Lehrer anerkannt werden wollte, konnte er unmöglich sagen, dass er seine Akupunktur gerade erst unter den Augen von Ferreyrolles angefangen hatte. Noch weniger, dass er sie – falls wenigstens das stimmte – in China nur "gesehen" hatte. Aber eines war sein Glück: die Ärzte, die jetzt zu ihm kamen, wussten nicht, das er genau das Ferreyrolles anfangs erzählt hatte.
So muss sie entstanden sein, die seltsame Geschichte von der Cholera. Geschehen in dem "Hospital der Missionare", dessen Namen Soulié de Morant nicht nennen will. Angeblich 1901, gleich in seinem ersten Jahr in China. Wo er angeblich nicht nur zusah, wie der Chinese die Cholera mit Akupunktur heilte. Sondern wo er, in heller Begeisterung, die Akupunktur sogleich gelernt und selber eingesetzt haben will.
Eine Geschichte, an der nichts, aber auch gar nichts stimmt.

Auf einen Widerspruch habe ich schon hingewiesen: Da beginnt er seine Akupunktur angeblich bei Cholera, also einer der gefährlichsten Erkrankungen überhaupt. Warum also behauptet er stets: Das wahre Gebiet der Akupunktur sind die funktionellen Störungen?
Dann, der Arzt. Wirklich nur einer? Oder mehrere? Nicht einmal darüber gibt er klare Auskunft – obwohl diese wunderbare Heilung der Cholera doch angeblich das Schlüsselergebnis seines Lebens war. Folgt man der ersten Beschreibung dieses Ereignisses vom April 1932, waren es mehrere Ärzte: 
… l'hôpital des missionaires où des médecins chinois soignaient les malheureux atteints par la terrible épedémie de choléra qui ravageait aller Pékin et qui avait fait mourir sous mes yeux, en peu de jours, deux de mes domestiques (42). (... das Hospital der Missionare, wo chinesische Ärzte die unglücklichen Opfer der Cholera heilten, die in Peking tobte und die unter meinen Augen, in wenigen Tagen, zwei meiner Hausangestellten hatte sterben lassen.).
Aber schon wenige Zeilen danach – und von da an immer – ist nur noch von einem Arzt die Rede, etwa in seinem Hauptwerk (zitiert nach der amerikanischen Übersetzung):
I saw a Chinese doctor quickly stop the dangereous cramps, vomiting, and diarrhea – whose grave significance I immediately recognized – without using European medicine. (43)
Was übrigens seine innerhalb von Tagen gestorbenen Diener betrifft – obwohl gerade erst in China angekommen und in Peking nur zu Besuch, hat er offenbar mindestens drei davon, da doch von "zwei meiner Hausangestellten" die Rede ist – so erwähnt er sie jahrelang nicht mehr. Erst in seinem Hauptwerk tauchen sie wieder auf, sterben jetzt allerdings innerhalb von Stunden:  At that time, a great epidemic of cholera broke out and I saw the deaths of two of my servants in two hours. (44)
Was davon stimmt, wird sich weiter unten zeigen. Und ob da nun ein Chinese behandelte oder mehrere – alle Berichte über China stimmen in einem Aspekt überein: dass die chinesischen Ärzte stets sorgfältig darauf achteten, die Geheimnisse ihrer Kunst für sich zu behalten. Dass sie ihre Kenntnisse außer ihren Söhnen höchstens an erprobte Schüler weitergaben, und auch das nur, wenn diese in jahrelangem Dienst Ergebenheit und Loyalität bewiesen hatten. Völlig undenkbar, dass ein chinesischer Akupunkteur einfach mal so einen Fremden in seiner Kunst unterrichtet hätte. Zumal einen Ausländer, den er nie zuvor gesehen hatte – und das bei Patienten, die in höchster Lebensgefahr schwebten! Was hätten diese (und deren Verwandten, die im Hospital stets zugegen waren) von den Fähigkeiten des Arztes denken sollen, der sich nach wenigen Stunden der Unterweisung von einem Fremden vertreten ließ? Unmöglich!
Oder das Hospital. Egal ob ein "Hospital der Missionare" oder das katholische St. Vincent-Hospital, das 1900 eröffnet worden war – der Leiter war jedenfalls ein Franzose. Und Soulié, was tut er? Sieht angeblich eine wunderbare Heilung bei einer Krankheit, gegen die man im Westen damals noch kein wirksames Mittel kannte. Und doch kommt er nicht einmal auf die Idee, dem französischen Arzt davon zu berichten?
Das jedenfalls würde man Soulié de Morant gefragt haben, falls er es je gewagt hätte, diese Geschichte öffentlich vorzutragen. Kein Wunder also, dass er, wie mir seine Tochter berichtete, "niemals öffentliche Vorträge hielt".

Dann, die Cholera. Hatte man je von Akupunktur bei Cholera gehört?
Ja, das hatte man, besonders in französischen Kreisen. An späterer Stelle werde ich auf einen dieser Berichte eingehen. 
Nun aber die Cholera in Peking, angeblich im Jahr 1901. Gab es die?
Nein, nicht in diesem Jahr. Das zeigen die epidemiologischen Aufzeichnungen in der History of Chinese Medicine von Wong & Wu. Demnach gab es 1901 Pest in Hongkong und Fuzhou sowie Typhus in Jiangxi. Aber keine Cholera 1901 in Peking (45).
Und als mir nach langem Suchen endlich Souliés Mongolische Grammatik von 1903 in die Hände fiel, zeigte sich hier: Monsignore Bermyn, Bischof der Westmongolei, war gar nicht 1901 in Peking, um für seine Diözese über eine Entschädigung für die Verwüstungen des Boxer-Aufstandes zu verhandeln. Sondern das war (siehe oben) im Jahre 1902. Und da führte er Soulié laut dessen eigenen Worten keineswegs durch die Hospitäler oder sonstige französische Einrichtungen, sondern gab ihm eine Einführung ins Mongolische.
Also alles ausgedacht – außer dass es tatsächlich Berichte gab, wonach chinesische Ärzte Cholera mit Akupunktur behandelt hatten. Allerdings nicht in Peking. Nicht 1901. Sondern zu einer ganz anderen Gelegenheit, auf die ich weiter unten zu sprechen komme.
Aber die französischen Ärzte, allen voran das Ehepaar Martiny, kauften Soulié de Morant alles ab, und später die Deutschen erst recht.
Dabei hätte schon ein Blick auf das, was Soulié die Morant über Form und Material der Akupunkturnadeln sagte, stutzig machen müssen. 
 
9. Gold oder Silber – aber nur eine einzige Nadel
Die oben zitierten Textstellen von de la Fuye/Schmidt zeigen, dass diese in ihrem Buch Die Moderne Akupunktur von 1952 großen Wert auf das Material der Akupunkturnadeln legen: Gold zum "Tonisieren", Silber zum "Sedieren". Dasselbe lehrte Johannes Bischko. Gold- und Silbernadeln spielen auch heute noch in der Ohrakupunktur eine große Rolle.
Tatsächlich haben Länge, Form und Material der Nadeln in China stets zum Kernbestand der Akupunktur gehört. Schon das Huangdi Neijing, bis heute die Bibel der TCM, beschreibt die antiken "Neun Nadeln". Natürlich waren die verwendeten Nadeln im Lauf der Geschichte stets einem Wandel unterworfen, vor allem durch die Fortschritte der Metallverarbeitung. Doch verstand es sich von selbst, dass ein Akupunkteur eigens dafür angefertigte Nadeln verwendete. Diese wurden – da es üblich war, dass der Arzt zum Patienten ging, nicht umgekehrt – in einem speziellen Behälter aufbewahrt. 
Besondere Akupunkturnadeln zu verwenden, verlangte schon das Prestige, denn Nadeln für den Alltagsgebrauch hätte auch eine Großmutter oder sonst jemand in den Körper des Kranken stechen können. Davon abgesehen, muss die Nadel neben Festigkeit und Bruchsicherheit einige Bedingungen erfüllen. Während eine Nähnadel komplett durch den Stoff gleiten soll, gilt für die Akupunkturnadel das Gegenteil: das Griffstück muss verhindern, dass die eingestochene Nadel, vielleicht durch eine Bewegung des Patienten, unter die Haut gezogen wird und dort im Gewebe verschwindet. Außerdem wird die Nadel nicht nur eingestochen, sondern danach (allerdings niemals in den Schriften des Soulié de Morant!) durch verschiedene Techniken stimuliert, beispielsweise durch Reiben des Griffstückes. Es gibt auch die sogenannte "warme Nadel", bei der Moxawolle auf den Nadelgriff gedrückt und angezündet wird, so dass das abglimmende Moxa die Nadel erwärmt. Damit die Moxawolle nicht abfällt, ist hierfür eine gewisse Rauhigkeit Voraussetzung, die in der Regel durch eine Umwicklung des Griffteils mit feinem Draht erreicht wird.
Was aber schreibt Soulié de Morant über die Nadeln?
Im allerersten Aufsatz vom Juni 1929, gemeinsam mit Paul Ferreyrolles, heißt es noch:
Les aiguilles sont fabriquées avec des métaux très purs, or ou argent de préférence, très flexibles et très ductiles (46). ("Die Nadeln werden aus sehr reinen Metallen hergestellt, vorzugsweise Gold oder Silber, sehr flexibel und bruchfest").
Gold oder Silber
. Die Definition eines Kenners, der sich auskannte?
Nein, keineswegs. Sie stammt fast wörtlich aus Dabrys La Médecine chez les Chinois von 1863, ist aber dort noch viel ausführlicher:
... d’aiguilles fabriquées avec des métaux très-flexibles, très-durs, trés-ductiles, et autant que possibles inoxydables; l’or et l’argent doivent être employés de préférence. On fabrique également d’assez bons instruments avec l’acier bien trempé, recuit et parfaitement poli (47). ("... Nadeln, hergestellt aus sehr flexiblen Metallen, sehr hart, sehr bruchfest, möglichst rostfrei; Gold und Silber soll bevorzugt verwendet werden. Man stellt auch gute Instrumente aus Stahl her, gehärtet und perfekt poliert").
Seltsam. Müsste nicht Soulié, der angeblich in China viele Patienten genadelt hatte, viel erschöpfender Auskunft geben können? Stattdessen nur ein Auszug von dem, was Dabry schreibt, dazu noch mit einem Fehler beim Abschreiben, so dass aus dem très-durs bei Dabry nun très purs wird, also "sehr rein" (was vom Aussehen der Nadel niemand überprüfen kann) statt wie bei Dabry "sehr hart" (was jeder feststellen kann, der eine Nadel zur Hand nimmt). Und die ziemlich guten Stahlnadeln, die Dabry in China gesehen hat, erwähnt Soulié de Morant gar nicht. Schon mal entlarvend.
Noch anderes ist auffällig: Von Dabry übernimmt auch Soulié die Nennung von Gold und Silber als Alternative: or ou argent, Gold oder Silber. Hätte er jetzt schon eine klare Vorstellung von der Akupunktur gehabt (oder von dem, was er in Kürze schreiben und erzählen würde), hätte es heißen müssen: Gold und Silber – Gold zum "Tonisieren", Silber zum "Sedieren". Dasselbe hätte auch für die Nadeln (Plural!) des ersten Arztes gelten müssen. Dieser hätte, wenn doch zum "Tonisieren" und "Sedieren" angeblich unterschiedliche Nadeln verwendet wurden, doch mindestens zwei verschiedene Arten von Nadeln zur Verfügung haben müssen. Und er hätte, wenn der junge Soulié von ihm wirklich Akupunktur gelernt hätte, ihm auch mindestens zwei verschiedene Arten von Nadeln leihen müssen. Davon aber ist niemals die Rede.
Auch dies ein Indiz, dass Soulié de Morant sich alles, was er über die praktizierte Akupunktur schreibt, erst im Lauf der nächsten Jahre ausgedacht hat.

Bevor ich im folgenden auf einen verhängnisvollen Fehler zu sprechen komme, der ihm bei seinen ersten beiden allein geschriebenen Aufsätzen unterläuft, möchte ich die Aufmerksamkeit noch auf etwas anderes richten.
In seinem ersten Bericht über die Cholera und seine angeblich erste Akupunkturerfahrung gibt es nämlich eine Formulierung, die man leicht überliest, und die ich deshalb hier noch einmal wiederhole:
j’obtins du practicien le prêt d’une aiguille et de quelques malades (48). ("Ich erhielt von dem Akupunkteur eine Nadel und einige Patienten geliehen").
Wie das – nicht nur dieselbe Art von Nadel zum "Tonisieren" und "Sedieren", sondern sogar nur eine Nadel?
Ja, eine einzige!
Das muss tatsächlich seine Vorstellung einer Akupunktur gewesen sein: dass sowohl der Arzt als auch er selber angeblich die ganze Prozedur mit einer einzigen Nadel durchführte. Was erstens bedeuten würde, dass mit demselben Material "tonisiert" und "sediert" wurde. Zweitens impliziert es noch etwas: dass die Nadel jeweils nur einige Sekunden in situ geblieben wäre, und dann wieder herausgezogen und in den nächsten Punkt gestochen ... auch das eine bezeichnende Vorstellung.
Dass Soulié de Morant das tatsächlich so meinte, zeigt auch die Formulierung für die Behandlung des chinesischen Arztes: quelques piqûres ... avec une fine aiguille ... (49) ("einige Stiche ... mit einer feinen Nadel"). Nicht, wie es der Plural verlangt hätte, avec des fines aiguilles, wenn es mehrere gewesen wären. Nein, so denkt es sich Soulié de Morant wirklich: sowohl für den Arzt wie für sich selber jeweils nur une aiguille – eine Nadel. Wieder entlarvend.
Aber wenn es denn wirklich eine einzige Nadel war – dann wäre natürlich die Frage um so wichtiger gewesen: Was für eine Nadel benutzte der Arzt? Was für eine Nadel war es, die Soulié de Morant "geliehen" erhielt? Die Nadel, mit der er 1901 Akupunktur lernte? Die Nadel, die sein Leben veränderte? Die Nadel, die 30 Jahre später den Siegeszug der Akupunktur in der westlichen Welt einleiten sollte? 

---> Teil IV:   
Der GAU des Hochstaplers
 

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