IV: Der GAU des Hochstaplers

Akupunktur im Westen:
 Am Anfang war ein Scharlatan

Teil I.     Zusammenfassung
Teil II.   
Erst Cholera, dann “funktionelle Störungen”
Teil III. 
Unbegreifliche Aussagen
Teil IV.   
Der GAU des Hochstaplers
Teil V.    
Indizien und ein Urteil
Teil VI.   
Ist TCM Kultur oder Medizin?
Teil VII. 
Nachtrag: Was taugt die Akupunktur?
Teil VIII.
Literaturangaben und Anmerkungen
Teil IX.  
Fotos

Teil IV: Der GAU des Hochstaplers

10. Der GAU des Hochstaplers: Kupfernadel und Nähnadel

Um das Entsetzliche zu verstehen, das diesem armen Hochstapler in seinen ersten beiden allein geschriebenen Aufsätzen zur Akupunktur unterläuft, muss man sich seine Situation vor Augen führen.
Zum einen der Schreibtisch des Vielschreibers, der stets an drei, vier, fünf Projekten gleichzeitig arbeitete: hier Entwürfe, da Manuskripte, in erster, zweiter, dritter Fassung, teils handgeschrieben, teils mit der Schreibmaschine getippt. Daneben Briefe, Korrekturfahnen, Vorabdrucke, Abrechnungen, Anfragen, Vorschläge ... in diesem Durcheinander den Überblick darüber zu behalten, welche Formulierung, welchen Begriff er da und dort verwendet hatte, war kaum möglich.
Dann, die Technik. Fotokopierer gab es nicht. Selbst wenn zwei ähnliche Aufsätze fast gleichzeitig an zwei verschiedene Verlage gingen, konnte man nicht wie heute einfach Textblöcke im PC kopieren. Sondern sie mussten Buchstabe für Buchstabe abgetippt oder gar von Hand geschrieben werden. Bei dem Schnellschreiber Soulié de Morant dauerte das vermutlich fast genauso lange, wie die Texte komplett neu zu schreiben.
Nun also, Anfang 1932, gingen innerhalb weniger Wochen zwei Aufsätze an verschiedene Zeitschriften. Im April 1932 veröffentlichte Mercure de France den Aufsatz L’Acuponcture Chinoise. Im Juni 1932 erschien in der Zeitschrift Annales homéopathiques de l’Hôpital Saint-Jacques ein Beitrag mit demselben Titel. Offenbar hatte Soulié de Morant, als er den zweiten Beitrag verfasste, das Manuskript des ersten nicht mehr in der Hand. Und die Zeitschrift mit dem ersten Aufsatz war noch nicht erschienen.
So kam es zu dem folgenschweren, entlarvenden Fehler, der ihm hierbei unterlief. Ein Fehler, der schon damals allen Akupunkturjüngern hätte zeigen müssen: der das schrieb, war ein Lügner. Ein Hochstapler. Ein Betrüger.

Also: was für eine Nadel benutzte der chinesische Arzt beim Behandeln der Cholera? Mit welch einer Nadel begann die Akupunktur des Soulié de Morant?
Dazu schreibt er im April 1932:
Les moyens employés étaient plus que simples. Sur des points chinois, quelques piqûres de 3 ou 4 mm de profondeur avec une fine aiguille de cuivre, sans aucune injection de médicament (50). ("Die angewandten Mittel waren mehr als einfach. Auf die chinesischen Punkte, einige Stiche von 3 oder 4 mm Tiefe, mit einer feinen Kupfernadel, ohne jegliche Injektion eines Medikaments").
Einige Stiche von 3 oder 4 mm Tiefe. Vielleicht unterschiedliche Nadeln für "Tonisierung" und "Sedierung"? Mitnichten. Das Instrument: eine feine Kupfernadel.
Wer sich auskennt, wird bei den "3 oder 4 mm Tiefe" schon die Stirn runzeln. Unbegreiflich ist auch, dass Soulié, der angeblich erfahrene Akupunkteur, niemals mitteilt, welche Stellen der Chinese (und angeblich auch er, Soulié) nadelte. Aber jetzt geht es um die "feine Kupfernadel". Schon mal auffällig. Hatte es nicht in seinem ersten Aufsatz geheißen (und ebenso, wörtlich, auch im zweiten), die Chinesen verwendeten Nadeln aus sehr reinen Metallen, vorzugsweise Gold oder Silber? Und hier nun, bei dem alles entscheidenden Erlebnis, eine Kupfernadel? Schon mal seltsam.
Aber dann, der Aufsatz vom Juni 1932. Hier nun heißt es:
… sur des points choisis, quelques piqûres à 3 ou 4 mm de profondeur avec une aiguille à coudre sans aucune injection de médicament (51).
"Une aiguille à coudre" –
eine Nähnadel!
Da ist es passiert: der GAU. Da beschreibt der falsche Adlige Soulié de Morant das alles entscheidende Ereignis, das angeblich sein Leben verändert ... die eine Nadel, die der chinesische Arzt ihm leiht ... und er weiß nicht einmal, was für eine Nadel das war.
Der größte anzunehmende Unfall des Hochstaplers. Das eine, flüchtig dahingeschriebene Wort, das ihn entlarvt.
"Kupfernadel" und "Nähnadel", kann man das verwechseln? Unmöglich. Nähnadeln aus Kupfer hat es selbst im China des Jahres 1901 nicht gegeben. Schon gar nicht in der Hauptstadt Peking. Und wenn es denn wirklich so gewesen wäre: warum muss ihm der Arzt eine Nähnadel leihen? Warum sagt er nicht einfach: "Kauf dir ein Dutzend Nadeln beim nächsten Schneider"?
Egal wie man es dreht und wendet – so kann es nicht gewesen sein. 

Wie es zu dem Fehler kam, lässt sich an den beiden Textstellen nachvollziehen. Die Fakten sind ohnehin sämtlich ausgedacht, das zeigen schon (siehe oben) die Begleitumstände: es gab 1901 in Peking keine Cholera, und es gab dort 1901 auch keinen Monsignore Bermyn, der den gerade in China angekommenen Soulié in ein Hospital hätte führen können. Doch für den Hochstapler ist entscheidend, dass er, geschehe was wolle, bei der einmal gewählten Darstellung bleibt. Genau das glaubt Soulié de Morant auch zu tun. Aber was er in Erinnerung hat, ist offenbar nicht das Faktum, sondern der Klang.
Und da gibt es in beiden Textstellen ein zweites Wort, wo ein ähnlicher Klang ihn zu einer ähnlichen, wenn auch weniger auffälligen Abweichung bringt. Spricht er nämlich im April von des points chinois ("chinesische Punkte"), so sind es im Juni des points choisis ("ausgewählte Punkte"). "Nähnadel" und "Kupfernadel" klingen im Deutschen ganz unterschiedlich, nicht aber im Französischen. Hier die aiguille de cuivre, da die aiguille à coudre – klingt ganz ähnlich. Allerdings nur für denjenigen, der von der Sache selber, um die es da geht – nämlich von den realen Nadeln, die ein realer chinesischer Arzt an realen Patienten benutzt haben müsste – keine Ahnung hat. 


11. Das aber ist der Fluch der bösen Tat ...

... dass sie stets neues Böses zeugen muss.
Den Deutschen fiel der Fehler nicht auf. Keiner machte sich die Mühe, des Meisters frühe Aufsätze zu studieren. Aber in Frankreich müssten es einige gemerkt haben. Und selbst wenn nicht, so muss es doch Soulié de Morant selber siedendheiß aufgefallen sein, als er beide Aufsätze vor sich liegen hatte.
So bleibt ihm nur der Versuch, den schrecklichen Fehler, der ihm gleich am Anfang unterlaufen ist, mit einer weiteren Lüge zu überspielen.
In seinem ersten Akupunkturbuch, dem Précis de la vraie Acuponcture Chinoise von 1934, ist der Schock über seinen Fehler besonders deutlich zu spüren. Man merkt Soulié de Morant förmlich an, wie er verzweifelt nach einer Formulierung sucht, in der "Kupfernadel" und "Nähnadel" eine Einheit bilden, so dass eine alternative Verwendung beider Begriffe wenigstens möglich erscheint. Also schreibt er:
Chacun se fait donc fabriquer des aiguilles selon ses idées, les conditions d’emploi et les observations faites ... La simple aiguille à coudre de tailleur, fine et en alliage de cuivre dur, est très employée (52). ("Jeder lässt sich Nadeln je nach seinen Ideen, den Bedingungen der Anwendung und den gemachten Beobachtungen anfertigen ... Die einfache Nähnadel des Schneiders, fein und in Legierung mit hartem Kupfer, wird häufig verwendet").
Auch hier natürlich der Widerspruch zu den ersten Artikeln, wo weder von Kupfer noch von "Nähnadeln" die Rede ist, sondern nur von sehr reinen Metallen, vorzugsweise Gold oder Silber.
Aber davon abgesehen – Nähnadel, in Legierung mit hartem Kupfer? Und dann noch häufig verwendet? Eine dicke, fette Lüge, die nicht nur jeden Schneider zum Lachen bringt, sondern erst recht jeden, der sich ein wenig mit Metallurgie auskennt. Wann und wo gab es jemals solche seltsamen Schneidernadeln? Seit dem 14. Jahrhundert werden diese ausschließlich aus feinem Stahldraht hergestellt. 1615 legte die Zunftordnung der Aachener Nadelmacher fest, dass für Nadeln kein anderes Material verwendet werden dürfe. Das müssen wohl auch seine verwirrten Schüler Soulié de Morant klargemacht haben. Denn in seinem Hauptwerk L’Acuponcture Chinoise von 1939 (wieder in englischer Übersetzung von 1994) behauptet er nur noch:
In China there is no "official" model for acupuncture needles ... Each person uses whatever gives him the best result – or whatever he can afford to buy. Thus, many types of needles are seen in the hands of the practitioners, ranging from the luxurious gold needles with two points bound by a spiral, to the humble needle of the tailor (53).
Dass auch dies gelogen ist, zeigt schon die Formulierung are seen in the hands of the practitioners. Denn wie viele practitioners hatte er denn je gesehen, und zwar selbst dann, wenn seine Berichte nicht allesamt ausgedacht wären?
Es gibt in seinem Werk nur 4 Textstellen, wo er etwas über chinesische Akupunkteure mitteilt, mit denen er Kontakt gehabt haben will. Im Aufsatz vom April 1932 ist (abgesehen davon, dass er zuerst von "chinesischen Ärzten" im Plural spricht) die Rede von jeweils einem Akupunkteur in Peking, Shanghai und Yunnan-fou. Im Aufsatz vom Juni 1932 wird der dritte Arzt in Yunnan-fou gar nicht erwähnt, ebenso im Précis de la vraie Acuponcture Chinoise von 1934. Nur in seinem 1939 erschienenen Hauptwerk heißt es auf einmal über die Zeit in Yunnan-fou:
I ... maintained my connections with Chinese acupuncture doctors (54).
Bei wem also will er all die verschiedenen Nadeln gesehen haben? Zumal er, wie oben angemerkt, jede Erwähnung von Dr. Feray vermeidet, der in dieser Zeit in Yunnan-fou tatsächlich "enge Beziehungen zu den chinesischen Ärzten" unterhielt?
Aber gut, nehmen wir ruhig einmal an, es wäre so gewesen, und er hätte drei oder sogar mehr verschiedene Lehrer gehabt. Dann drängt sich erst recht die Frage auf: Was für Nadeln benutzte denn Souliés erster Lehrer in Peking? Welche der Arzt in Shanghai, welche der Arzt oder die Ärzte in Yunnan-fou? Wenn wirklich jeder seine eigenen Nadeln benutzte – müsste dann nicht auch Soulié diverse Typen von Nadeln ausprobiert haben? Welche Vorteile und Nachteile sah er, der angeblich erfahrene Akupunkteur, bei den angeblich verschiedenen Nadeln, die seine angeblichen Lehrer benutzt haben müssten?
Dazu findet sich wie immer bei Soulié de Morant kein einziges Wort.
Und schließlich: Warum in aller Welt brachte Soulié de Morant, angeblich in den Augen des chinesischen Gesetzes Akupunkteur, angeblich im eigenen Bewusstsein als chinesischer Arzt nach Frankreich zurückgekehrt, von den many types of needles keine einzige Akupunkturnadel aus China mit?
Für alle diese Widersprüche, Auslassungen und bewusste Zwecklügen gibt es nur eine einzige logische Erklärung: weil er in China nie eine Akupunktur miterlebt hatte – mehr noch, nicht einmal eine chinesische Akupunkturnadel gesehen hatte. 

Darum kann er auch nicht sagen, welche Körperstellen erst der Arzt in Peking, dann er selber zur Behandlung von Cholera angeblich nadelte (während, wie wir sehen werden, der echte Augenzeugenbericht eines Laien dies durchaus mitteilen kann).
Darum erwähnt er, außer der genannten Cholera, niemals Patienten und Krankheiten, die seine Lehrer und angeblich er selber in China behandelten.
Darum nennt er nie die Namen der Bücher, die ihm die chinesischen Lehrer angeblich empfohlen oder gegeben haben.
Darum findet sich bei ihm nie eine Zeile darüber, wie seine angeblichen Lehrer arbeiteten und ihre Patienten fanden. Kein Wort, wie sie lebten, wo sie ihre Behandlungen durchführten. Was für Erkrankungen sie behandelten. Wie sie untersuchten, zur Diagnose kamen, die Therapie festlegten. Wie oft sie zu einem Patienten gingen. Wieviel Geld sie für ihre Behandlung verlangten. 
Darum gibt er niemals einen einzigen praktischen Hinweis, den er von einem seiner angeblichen Lehrer erhalten hätte – weder zu den Nadeln, noch zur Diagnose, noch zur Einstichtechnik oder zur Nadelmanipulation.
Darum erwähnt er in keiner seiner vielen Schriften vor 1929 die Akupunktur auch nur mit einem einzigen Wort.
Darum auch brachte er aus China keine einzige der angeblich vorhandenen vielen verschiedenen Akupunkturnadeln mit.
Darum nennt er, der sonst Hinz und Kunz erwähnt und das Name-dropping liebt wie kein zweiter, nur ein einziges Mal (nämlich in L’Acuponcture Chinoise von 1939) die Namen von zweien seiner angeblichen Lehrer, und auch da nur die Familiennamen: In Peking one Dr. Yang. In Shanghai an excellent acupuncturist, Dr. Zhang (55) – letzteres ein Name, von dem es in China so viele Träger gibt wie Frankreich Einwohner hat.
Und weil er in China nie eine Akupunkturnadel in der Hand hatte – geschweige denn unterschiedliche Arten davon – geschahen auch seine ersten Versuche zum Herausfinden der besten Nadelform nicht in China, sondern in Frankreich. Darüber nämlich heißt es in seinem Hauptwerk:
After long trials we [d.h. er und die französischen Ärzte] have found that the best results are obtained with two different models of needles with the following composition of metals:
For tonification: 60% to 70% pure gold and 40% to 30% red copper.
For dispersion: 66,6% pure silver and 33,4% pure zinc
(56).

Also als neues Prinzip der Akupunktur, das er von nun an lehren wird: Goldnadeln for tonification, Silbernadeln for dispersion. Bezeichnenderweise nennt er – obwohl der größte Teil seines Hauptwerkes L’Acuponcture Chinoise eine Aneinanderreihung übersetzter Textstellen ist – dafür niemals einen Beleg in einem der maßgeblichen chinesischen Werke.
Es widerspricht auch zwei anderen Konzepten, die er selber an anderen Stellen beschreibt. Das eine, in der Formulierung aus dem Précis von 1934, lautet:
Les plus anciennes presriptions recommandent les moxas pour tonifier; les aiguilles, pour disperser (57). ("Die ältesten Verschreibungen empfehlen Moxa zum Tonisieren, die Nadeln zum Zerstreuen ["Sedieren"]).
Das andere, das er im Précis als "Gesetz des Rudolphe Arndt" zitiert:
Les petites excitations provoquent l’activité vitale, les excitations moyennes l’augmentent. Les excitations fortes la jugulent. Les excitations exagérées l’abolissent (58). ("Die kleinen Reize rufen die vitale Aktivität hervor, die mittleren verstärken sie, die starken blockieren sie, die überstarken bringen sie zum Erliegen").
Diese Definition entspricht in der Tat der chinesischen Realität am meisten. Hierzu heißt es beispielsweise im Outline of Chinese Acupuncture, dem 1975 erschienenen ersten chinesischen Akupunkturbuch in englischer Sprache:
a. Weak stimulation: Generally, this is considered as equivalent to the re-inforcing method.
b. Strong stimulation: This method is considered as equivalent to the reducing method
.
(59)


12. Im Grunde weiß er gar nichts

Wer sich etwas mit TCM auskennt und betrachtet, was Soulié de Morant ab 1929 als "chinesische Medizin" beschreibt, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Immer wieder ist nur eine Schlussfolgerung möglich: dass er in Wahrheit weder von der TCM-Theorie noch von ihrer Praxis fundierte Kenntnisse besaß. Dass er erst dann, als die Aufsätze von ihm und Ferreyrolles eine unerwartete Resonanz fanden, sich einige Bücher zur TCM verschaffte und anfing, sie zu studieren und zu übersetzen.
Und doch zeigt sich bis zum Schluss, dass er die chinesische Medizin niemals wirklich verstanden, sie nie als kohärentes System begriffen hat.
Denn jedes Medizinsystem, ob traditionell oder modern, enthält mindestens vier grundlegende Bestandteile. In der TCM kommt wie in anderen traditionellen Systemen als Basis noch etwas hinzu, nämlich
A) Philosophische Grundlagen, die Mensch und Kosmos umfassen.
B) Die anderen, "medizinischen" Teile sind:
1. Körperbeschreibung, Organlehre, Organfunktionen
2. Krankheitsursachen und Krankheitslehre
3. Untersuchung, Diagnose, Prognose
4. Therapie und Verhaltensregeln.
Alle fünf Teile enthält auch die TCM. In allen fünf Teilen weicht sie in wesentlichen Punkten von der wissenschaftlichen Medizin ab. Soulié de Morant jedoch kennt diese Unterschiede entweder nur oberflächlich oder gar nicht.
Von Yin und Yang (die er stets "Kräfte" nennt) kennt er vor allem die Aspekte Hitze-Kälte, Helligkeit-Dunkelheit, Ruhe-Bewegung. Falsch ist seine Annahme, rechts und die rechte Hand sei dem Yang, links und die linke Hand dem Yang zugeordnet. Falsch ist auch seine Annahme, Yang würde absinken, Yin hingegen aufsteigen.
Von der 5-Phasen-Lehre, deren umfassende Entsprechungen die gesamte TCM-Theorie durchziehen, weiß er fast nichts. Explizit wird sie sogar in seinem Hauptwerk nur in wenigen Zeilen abgehandelt, und zwar mit dem Hinweis (zitiert nach der englischen Ausgabe):
The law of the five elements is very interesting, but it would be abusive to give it predominance and quasi-preference in a process as complex as the management of energy (60).
Aber selbst das wenige, das er davon weiß und beschreibt, ist falsch:
Each element (and each astral influence) endangers one element and benefits another (61).
Die zugehörige Zeichnung zeigt, dass mit dem Kreislauf der "Gefährdungen" der Ke-Zyklus gemeint ist. Dieses "克 ke" aber bedeutet nicht "gefährden, sondern "beherrschen" und wird auch in diesem Sinn eingesetzt.
Und während Soulié in den Aufsätzen vom Juni 1931 und vom April 1932 wenigstens die Reihenfolge des Ke-Zyklus richtig darstellt, bringt er im Hauptwerk L’Acuponcture Chinoise alles durcheinander:
The spleen (earth) benefits the liver (wood, Jupiter), but destroys the lungs (metal, Venus), etc. (62)
Keineswegs. Richtig ist vielmehr: Nicht Erde (Milz) fördert Holz (Leber), sondern Wasser (Niere). Die Milz (Erde) hingegen fördert die Lunge (Metall) und beherrscht die Niere (Wasser). Totale Konfusion. Totale Unkenntnis.

Dasselbe bei der TCM-Beschreibung von Körper, Geweben, Organen und Funktionen. Bis zum Schluss weiß Soulié de Morant nicht, dass die chinesische Medizin den Zentralorganen Leber, Niere und Milz ganz andere Funktionen zuschreibt als die moderne Biologie. Die Leber der TCM ist vor allem für Emotionen zuständig – der Theorie nach für den Zorn, in der klinischen Praxis für die meisten emotionalen Abweichungen. Die Milz ist das Zentralorgan des Stoffwechsels, das immerhin weiß Soulié, und deshalb spricht er statt vom "Milz-Meridian" vom "Milz-Pankreas-Meridian". Dass aber selbst dann, wenn man durch die Nadelung bestimmter Punkte Milz UND Pankreas zugleich beeinflussen könnte, auch damit lediglich die Produktion von Verdauungssäften beeinflusst würde, geht ihm bis zum Schluss nicht auf.
Chinesische und westliche Akupunkteure versuchen, dieses Problem zu lösen, indem sie von Organen lieber von "Funktionskreisen" sprechen. Dem steht allerdings entgegen, wie die Theorie der Leitbahnen deren Wirkung erklärt: nämlich damit, dass ihre inneren Verläufe durch die jeweiligen Organe verlaufen. Wie aber kann ein "Meridian" durch einen "Funktionskreis" verlaufen?
Und was Soulié de Morant überhaupt nicht sieht: dass die Niere nur scheinbar (nämlich durch die Zuordnung zur Phase Wasser) mit dem Flüssigkeitshaushalt zu tun hat. Tatsächlich ist sie in der TCM das Zentralorgan der Vitalität und Reproduktion, auch der Sexualität. Nur weil Soulié das nicht weiß, kann er die seltsame "Herzbeutel-Leitbahn" (心包经­ Xinbaojing) in den ersten Jahren als "Kreislauf-Sexualität-Meridian" bezeichnen – auch dies eine Bezeichnung, die sich vielerorts bis heute gehalten hat.

Die 奇恒之腑 Qi heng zhi fu, die "außergewöhnlichen Fu-Organe" der TCM (Gehirn, Knochenmark, Knochen, Gefäße, Gallenblase, Uterus) sind ihm unbekannt, erst recht das Kuriosum, dass die Gallenblase sowohl zu diesen als auch zu den regulären 6 Fu-Organen (Magen, Dickdarm, Dünndarm, Blase, Gallenblase, 3 Erwärmer) gezählt wird. Dass er in China nie einen Arzt nach den seltsamen 三焦 Sanjiao gefragt hat, zeigt sich schon darin, dass er sie anfangs als trois constricteurs bezeichnet, später als trois rechauffeurs. Im Précis von 1934 findet sich in Zeichnungen noch constricteurs (63), im Text rechauffeurs (64).
Er weiß nichts von der Zuordnung der Zang-Organe (Leber, Niere, Herz, Milz, Lunge) zu den "Öffnungen" Auge, Ohr, Zunge, Mund, Nase.
Auch die Zuordnung von Farben (grün, rot, gelb, weiß, schwarz) und Geschmäckern (sauer, bitter, süß, scharf, salzig) zu den 5 Phasen und den 5 Zang-Organen sowie deren Rolle für Diagnostik und Therapie ist ihm unbekannt.
Keinerlei Rolle spielen bei ihm die Körperflüssigkeiten Blut, Harn, Speichel, Schweiß, Tränen und ihre Zuordnung zu den Zang-Organen.
Dasselbe gilt für Gewebestrukturen der TCM wie Knochen, Haut, "Fleisch", Sehnen und Muskeln, Gefäße, Haare sowie ihre Zuordnung zu den Zang-Organen. Dabei haben diese Zuordnungen in der TCM unmittelbare klinische Bedeutung, etwa wenn leicht brechende Knochen als Nierenschwäche gedeutet und entsprechend behandelt werden.
Ebenso falsch ist seine Darstellung der 经­络 Jingluo, die er als "Meridiane" bezeichnet. Auch seine Übersetzung des ominösen 气 Qi als "Energie" ist zwar genial, aber dennoch falsch. Dazu später mehr.

Wie sieht es bei der Krankheitslehre aus?
Nicht besser. Er weiß so gut wie gar nichts von den "inneren Ursachen" 内因 Neiyin, also den "schädlichen Emotionen", die der Theorie nach jeweils einem der Zang-Organe zugeordnet werden. Ebensowenig weiß er von den "äußeren Ursachen" 外因 Waiyin, d.h. den "schädlichen klimatischen Einflüssen", ebenfalls in der Theorie den Zang-Organen zugeordnet. 
Da, wie erwähnt, sein Hauptwerk weitgehend aus Zitaten besteht, werden hier natürlich immer wieder zentrale Aspekte von Organlehre und Krankheitslehre der TCM erwähnt. Dass aber Soulié de Morant hiervon kaum etwas verstanden hatte, zeigt schon, dass beispielsweise die "schädlichen Klimaeinflüsse" lediglich als kleine Unterabteilung von "Erkrankungen des Atemsystems" auftauchen:
Chills, Cold and Heat, Evil Cold, Evil Wind, Penetrating Cold (65).
 Die tatsächliche Rolle von Wind, Kälte, Hitze, "Feuer", Nässe, Trockenheit für Ätiologie und Pathologie der TCM hat er nie begriffen.
Pathophysiologisch bedeutsame Konstrukte, die im Huangdi Neijing nicht enthalten sind, sondern erst später in die TCM-Theorie Eingang fanden (wie "Schleim" oder "Blutstase"), spielen bei ihm erst recht keine Rolle. 


13. Keine Prognose, keine Zungendiagnose

Nun zu Untersuchung und Diagnose.
Und zur Prognose – obwohl diese bei Soulié de Morant überhaupt nicht existiert. Nicht einmal das Wort erwähnt er; jedenfalls habe ich es nirgendwo gefunden. Auch das ein Indiz, dass er von der realen Medizin in China keine Ahnung hatte. Andernfalls hätte er gewusst, dass es für den chinesischen Arzt, wenn er zu einem Notfall gerufen wurde (also eben nicht zu einer "funktionellen Störung") keineswegs das Wichtigste war, sofort Erste Hilfe zu leisten.
Nein – sondern das Wichtigste war eine schnelle Prognose: War der Patient zu retten, oder würde er sterben?
Wenn nämlich letzteres der Fall war, so war es angeraten, eine Behandlung abzulehnen und sich zu verabschieden. Andernfalls – selbst heute noch in den chinesischen Krankenhäusern ein Problem – wurde der Arzt für den Tod des Patienten verantwortlich gemacht. Im Zweifelsfall empfahl sich die Prognose "todgeweiht", verbunden mit der Zusicherung der Familie, den Angehörigen aufgegeben zu haben. Wenn das allerdings ganz aus der Luft gegriffen war, machte der Arzt sich lächerlich. Also brauchte es verlässliche Zeichen, die den nahen Tod anzeigten, jedenfalls eine Lebensgefahr erkennen ließen. (Auf die Frage, ob nicht von hier aus die gesamte überlieferte TCM-Diagnostik heute neu zu prüfen und zu bewerten wäre, werde ich an späterer Stelle eingehen.)
Nichts davon weiß Soulié de Morant. Auch dies ein klares Indiz, dass er in China nie dabei war, wenn ein chinesischer Arzt einen Patienten untersuchte.

Wie aber stellt sich nun Soulié die chinesische Diagnose vor?
Es ist bezeichnend, dass er an keiner Stelle einmal deren kompletten Ablauf schildert: von den ersten Eindrücken und Wahrnehmungen über Symptome, Untersuchungstechniken, Befunde bis hin zur Erstellung von Diagnose, Therapie und Prognose. Die Beurteilung des Patienten, seiner Persönlichkeit, seines Allgemeinzustandes umfasst knappe 3 Seiten und ist lediglich ein Unterabschnitt des Hauptkapitels The Management of Energy.
Von den 四诊 Si Zhen – den "4 diagnostischen Methoden" der TCM – hat Soulié de Morant nie gehört; er erwähnt sie nirgends. Es sind dies:
望 wang  Inspektion 
闻 wen  Hören und Riechen
问 wen  Fragen
切 qie   Fühlen
Desgleichen fehlt bei ihm die Darstellung der 八纲 Ba Gang, der acht diagnostischen Kriterien:
Yang   –  Yin
Fülle   –  Mangel
Wärme  –  Kälte
Außen  –  Innen.
Dabei geben die "4 diagnostischen Methoden" bereits einen realistischen Untersuchungsgang vor. Die Beurteilung des ersten Eindrucks weicht kaum vom dem ab, worauf auch ein moderner Arzt beim Patienten als erstes achtet. Jung oder alt, kräftig oder geschwächt? Guter Allgemein- und Ernährungszustand? Aufmerksam, gleichgültig, somnolent? Energische oder apathische Sprechweise? Tiefe oder oberflächliche Atmung? Atemgeräusche oder Atemnot? Haut schweißbedeckt oder trocken, blass oder gerötet? Lippen rot oder bläulich? Augen gerötet oder gelblich? Unnatürliche Haltung? Ekzeme, Schwellungen, Ödeme? Auffälliger Geruch? 
Hierbei registriert der chinesische Arzt dasselbe wie der westliche, ordnet es lediglich anders ein, nämlich (klinisch durchaus brauchbar) vor allem gemäß den "acht Kriterien": Eher ein Fülle- oder Mangelzustand? Eher ein Hitze- oder Kältezustand? Mehr Yin oder Yang? Mehr äußerlich oder innerlich?
Auch dass der chinesische Arzt nicht nur den Puls tastet, sondern neben der optischen, akustischen und olfaktorischen Wahrnehmung bestimmte Fragen stellt, erwähnt Soulié in den ersten Jahren nirgends. Erst in seinem Hauptwerk, in dem er auf tausend Seiten alles mögliche hineinpackt, was er inzwischen in chinesischen Büchern gefunden hat, findet sich auch eine Liste dieser Fragen.
Aber ein zentrales Element der TCM-Untersuchungstechnik findet sich selbst dort nicht. Zur "Inspektion" (Wangzhen) gehört nämlich auch ein Verfahren, das stets zum Kern der chinesischen Diagnostik gehörte: die Zungendiagnose. Die Schlüsse, die sich aus Beweglichkeit, Form und Farbe des Zungenkörpers sowie Art und Farbe des Belages ziehen lassen, sind wertvoll genug, um sie, wie ich finde, auch in das moderne medizinische Curriculum zu integrieren. Und dass Soulié de Morant, wie so vieles andere, auch die Zungendiagnose mit keinem Wort jemals erwähnt, ist ein weiteres Indiz dafür, dass er niemals einen chinesischen Arzt zum Lehrer gehabt haben kann. 


14. Des Kaisers neue Pulse

Worin aber besteht bei Soulié de Morant die chinesische Diagnostik?
In den ersten Jahren allein in der "Pulsdiagnose" – mit der einzigen Fragestellung, ob es sich um eine Störung des Yin oder des Yang handelt.
Und wenn es in der Geschichte der europäischen Medizin je gelungen ist, das Vorgehen der Schneider in Des Kaisers Neue Kleider auf die Medizin zu übertragen, dann Soulié de Morant mit dem, was er als "Chinesische Pulsdiagnose" präsentiert.
Dazu muss man wissen, dass auch die modernen chinesischen Lehrbücher der Diagnose pathologischer Pulse nach wie vor einen hohen Stellenwert einräumen. Sie tun es aber vor allem anhand allgemeiner Pulsformen, z.B.
- Floating Pulse
- Scattered Pulse
- Hollow Pulse
- Full Pulse
- Thin Pulse
- Soft Pulse
usw.
(66)
Die Zahl dieser Pulse variiert; häufig werden 24 bis 28 Pulsformen genannt. In didaktischer Hinsicht sind allerdings auch die chinesischen Darstellungen wertlos. Weder wird jemals angegeben, wie häufig die einzelnen Pulsformen vorkommen, noch spielt die Frage eine Rolle, wie viele davon schwere oder bedrohliche Krankheitsbilder kennzeichnen – also Zustände, die heute auch in China Domäne der wissenschaftlichen Medizin sind. Doch im Vergleich zu dem, was Soulié de Morant seinen Schülern als "chinesische Pulsdiagnose" vorsetzt, sind sie geradezu musterhaft einsichtig.
Auch er beschreibt in seiner späteren Phase eine Reihe von allgemeinen Pulsqualitäten – wobei er sich, bezeichnend genug, nie auf seine angeblichen Lehrer bezieht, sondern immer auf eines der vier Bücher, die er hauptsächlich benutzt. Dazu aber pickt er sich für die weitere Beurteilung ausgerechnet eines der spekulativsten Elemente heraus, das in der gesamten TCM-Lehre zu finden ist: die Eins-zu-eins-Beziehung von Pulstaststellen und Organen.
Ausgangspunkt sind die drei Taststellen des Radialispulses, wo Zeige-, Mittel- und Ringfinger aufgelegt werden. Von distal nach proximal sind dies: 寸 Cun (Handgelenkfalte), 关 Guan, 尺 Chi. Hierbei gilt nun laut Soulié de Morant (und den spekulativsten chinesischen Quellen):
1. Rechter und linker Radialispuls zeigen unterschiedliche Organe.
2. Alle drei Pulsstellen zeigen unterschiedliche Organe.
3. Tiefer und oberflächlicher Puls zeigen unterschiedliche Organe.
Daraus ergibt sich in der Darstellung Souliés: (67)

Rechte Hand:   寸 Cun        关 Guan        尺 Chi      
oberflächlich  Dickdarm    Magen         3 Erwärmer
mittlere Lage  Lunge       Pankreas      "Herzmeister"
tiefe Lage     =======      Milz          Sexualorgane

Linke Hand:    寸 Cun        关 Guan        尺 Chi      
oberflächlich  Dünndarm    Gallenblase   Blase
mittlere Lage  Herz        Leber         Niere
tiefe Lage     =======     =======       =======

Demnach will er den Zustand von 14 "Organen" an den 6 Pulsstellen direkt feststellen. Folgerichtig spricht er von "14 Pulsen". Und er fügt hinzu:
We have found that it is possible to distinguish between the left and the right kidney: the left side of the artery at the kidney represents the left kidney and the right side, the right kidney. The same is true for the lungs and the heart. This useful discovery is never mentioned in Chinese texts (68).
Genial! Unterschiede zwischen rechter und linker Lunge an einer einzigen Pulstaststelle feststellen ... vielleicht Tuberkulose oder Lungenkrebs? Leider vergisst er, das mitzuteilen. Soulié vergißt auch, dass die Milz in der TCM das Zentralorgan von Verdauung und Stoffwechsel ist, weshalb er sie ja (physiologisch abstrus) zum Doppelorgan "Milz-Pankreas" erweitert. Aber was spürt er denn nun in der Tiefe der rechten mittleren Pulstaststelle, wenn er die "Milz" fühlt: das Stoffwechselorgan oder das Organ der Blutmauserung? Und wenn das seltsame Doppelorgan Milz-Pankreas tatsächlich die Stoffwechselfunktion repräsentiert: was spürt dann der Untersucher, wenn er an der linken Guan-Taststelle in mittlerer Lage die "Leber" fühlt? Rätsel über Rätsel.
Dasselbe bei den Nieren: was Soulié de Morant hier an der rechten Chi-Taststelle "Sexualorgane" nennt, heißt an anderer Stelle bei ihm Mingmen, ganz in Übereinstimmung mit alten TCM-Quellen. Denen zufolge soll nur die linke Niere wirklich "Niere" sein, die rechte als Mingmen ("Lebenstor") hingegen ganz andere Funktionen haben. Welche, teilt Soulié in starker Verkürzung mit: Ming menn, c’est la vie sexuelle (69). Daraus folgt allerdings, dass laut Soulié die rechte Niere zweimal zu tasten ist, einmal als richtige Niere und einmal als Mingmen. Und die linke Niere? Ist die nun das Ausscheidungsorgan oder das TCM-Zentralorgan der Vitalität? Auch wieder sehr rätselhaft.
Fraglich auch, was der Untersucher fühlt, wenn er an der oberflächlichen Chi-Stelle die "3 Erwärmer" spürt – jenes Organ, das "keine Form, aber eine Funktion hat". Denn da die "3 Erwärmer" Brustraum, Oberbauch und Unterbauch umfassen, gehören dazu alle inneren Organe. Also was fühlt man da?
Merkwürdig weiterhin, wie Soulié an der rechten Chi-Stelle den "Herzmeister" fühlen will: dieses seltsame Organ, das es ansonsten in der TCM-Theorie gar nicht gibt, und das nur zur Auffüllung als 12. Organ in die Akupunkturtheorie gerutscht ist. Soulié de Morant allerdings, der weder davon noch von der Funktion der Niere in der TCM-Theorie etwas weiß, nennt die zugehörige Leitbahn anfangs "Kreislauf-Sexualität-Meridian". Und so nennen ihn viele ahnungslose deutsche Akupunkturjünger bis heute.
Wobei sich natürlich die Frage aufdrängt: wo und wie hätte Soulié de Morant das lernen können? Denn er behauptet ja, dass nicht nur die Chinesen diese fabelhafte Kunst der Organbeurteilung nach den Pulstaststellen beherrschen, sondern auch er, der falsche Konsul und falsche Adlige. Und das, obwohl er doch – selbst wenn man ihm seine chinesischen Lehrer abnehmen würde – als "Konsul" und "Richter" einen vollen Job hatte, so dass er, wenn überhaupt, höchstens nebenbei einige Patienten hätte behandeln können. Trotzdem soll man ihm glauben, dass auch er diese Kunst der Chinesen gelernt habe? Obwohl er nie ein Wort darüber fallenlässt, wie er das geschafft hat?
Nie ein Satz, was für Schwierigkeiten er anfangs vielleicht hatte, und wie er sie überwunden hätte. Nie ein Hinweis, ob ihm vielleicht jemals eine Fehldiagnose unterlaufen wäre. Oder vielleicht seinen Lehrern? Auch nicht. Wie immer bei Soulié de Morant: kein einziges Wort.
Also unglaubwürdig von Anfang bis Ende. Zumal ihm erst 1939 bei seiner letzten Erwähnung der chinesischen Lehrer die Behauptung einfällt, dass er schon 1901 nicht nur the most important points gelernt habe, sondern auch the patterns of the pulses (70). Das aber erzählt er nicht etwa dem Bäcker von nebenan, sondern erfahrenen studierten Ärzten. Und was machen die? Sie nicken bewundernd – statt in ein schallendes Gelächter auszubrechen, das den Scharlatan ein für allemal hätte verstummen lassen.

Aber es kommt noch schöner. Genau diese Lehre sollte sich nämlich später im "Repetitorium" der DÄGfA wiederfinden – einem der wenigen Versuche einer deutschen Akupunkturgesellschaft, ihre Lehrinhalte als Buch der Öffentlichkeit zu präsentieren: an den 3 Radialis-Pulstaststellen sei demnach rechts und links der Zustand unterschiedlicher Organe zu tasten, dazu an der Oberfläche anderer Organe als in der Tiefe (71). Als Verfasser des betreffenden Kapitels zeichnete 1990 Antonius Pollmann, 1997 Hans Garten. Kann das etwas anderes bedeuten als die Behauptung, dass diese beiden selber das Dargestellte beherrschten?
Ich aber glaube ihnen nicht. Und ich erlaube mir, nicht nur Soulié de Morant oder den redseligen Wiener Bischko als Hochstapler zu bezeichnen, sondern auch – falls sie mir wirklich erzählen wollen, diese wunderbare Organfeststellung an den 3 Pulstaststellen rechts und links, oberflächlich und in der Tiefe zu beherrschen – auch Herrn Garten und Herrn Pollmann (heute Vorsitzender des "Berufsverbandes deutscher Akupunkturärzte"). Und ich biete den ehrenwerten Kollegen eine Wette an: Wenn es ihnen in einem Testversuch mit 10 Patienten an der Berliner Charité gelingen sollte, bei 5 davon allein am Puls das erkrankte Organ festzustellen (mit Ausnahme des Herzens, versteht sich), vollziehe ich vor ihnen den dreifachen Kotau und entschädige sie für meinen Verdacht mit einem öffentlichen Widerruf sowie tausend Euro für ein Triumphessen.
Aber ich glaube nicht, dass einer der Herren oder Damen den Mut dazu hat. Der reicht, denke ich, nur dazu, um bei des Kaisers neuen Kleidern laut zu rufen: Welch herrlicher Schnitt! Welch zartes Material! ... um dann so tun zu können, als seien sie selber nicht weniger befähigt als jene großartigen Schneider (was ja auch nicht ganz falsch ist). 

---> Teil V: Indizien und ein Urteil
 

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